Vorwurf der fahrlässigen Tötung gegen Helios
Der Absender einer gefälschten SMS verurteilt
it. Istanbul, 17. August
Drei Tage nach dem Absturz eines zypriotischen Flugzeugs bei Athen hat Zyperns Staatsanwaltschaft gegen die Fluggesellschaft Helios den Vorwurf der fahrlässigen Tötung erhoben. Die Büros der Chartergesellschaft wurden in der Nacht auf den Mittwoch zum zweiten Mal innert weniger Stunden durchsucht. Der Absturz bleibt für die Experten nach wie vor rätselhaft. Ein Ermittler des amerikanischen Flugzeugbauers Boeing nannte ihn einen der eigenartigsten Unfälle in der fast neunzigjährigen Geschichte seines Unternehmens. Es sei unerklärlich, warum die Piloten die Sauerstoffmasken nicht aufgesetzt hätten, der Kapitän seinen Platz verlassen habe und andere Personen in das Cockpit hätten eindringen können, sagte er am Mittwoch gegenüber der griechischen Tageszeitung «Ta Nea». «Könnte es sein, dass im Cockpit die Sauerstoffflaschen nicht voll waren?», fragte die zypriotische Zeitung «Filelefteros». Leere oder nicht ausreichend gefüllte Sauerstoffflaschen im Cockpit liessen auf Fahrlässigkeit der Fluggesellschaft Helios, aber auch der zypriotischen Luftfahrtbehörden schliessen.
Vergeblicher Rettungsversuch
Mangelhafte Sauerstoffflaschen könnten auch die Beobachtung der griechischen Kampfpiloten erklären, die gesehen hatten, dass der Co-Pilot offenbar bewusstlos über dem Steuerknüppel lag, dass die Sauerstoffmasken unbenutzt von der Decke baumelten und dass zwei andere Personen im Cockpit anwesend waren. Den Kapitän konnten sie nicht ausmachen. Experten gehen davon aus, dass die zwei Personen im Cockpit den automatischen Piloten ausgeschaltet und versucht hatten, eine Notlandung einzuleiten. Laut Medienberichten soll es sich um einen Steward und seine Verlobte, eine Stewardess, gehandelt haben. Der Mann hatte vor kurzem seine Pilotenausbildung abgeschlossen. Die beiden könnten sich der Sauerstoffflaschen aus der Kabine bedient haben. 23 Minuten lang dauerte ihr Rettungsversuch. Dann ging der Treibstoff aus, und das Flugzeug zerschellte ausserhalb Athens.
Dramatische Momente erlebte auch die politische Führung in Athen. Die griechischen Militärpiloten hatten früh erkannt, dass das Flugzeug führerlos kreiste und den Alarm «Renegade» gegeben. Mit «Renegade» werden Terroraktionen aus der Luft bezeichnet. Laut der Tageszeitung «Elefterotypia» muss gemäss Nato-Instruktionen ein als «Renegade» bezeichnetes Flugzeug sofort von der nationalen Luftwaffe abgeschossen werden. Denn nach dem 11. September 2001 werden stumme und führerlose Flugzeuge als höchste Gefahr eingestuft.
Debatte um die Rolle der Medien
Die Boeing, die unkontrolliert in Richtung der Viermillionenstadt Athen flog, stellte eine Gefährdung der Bevölkerung dar. Wäre sie noch fünf weitere Minuten geflogen, hätte der Regierungschef den Abschussbefehl gegeben, schrieb «Elefterotypia». Die Regierung wollte diese Berichte nicht bestätigen. Stattdessen erklärte sie, sie habe Vorkehrungen auch für den Fall eines Absturzes in bewohnte Gebiete getroffen.
Den griechischen Medien machen unterdessen ein Farceur und die Leichtigkeit, mit der sie sich von ihm hatten beirren lassen, zu schaffen. Der Mann hatte sich kurz nach dem Absturz der Boeing beim privaten Fernsehsender Alpha gemeldet. Er habe aus der Unglücksmaschine eine Not-SMS erhalten: «Cousin, lebe wohl, wir erfrieren.» Die Nachricht ging um die Welt und löste Verwirrung unter Experten und Entsetzen unter den Verwandten der Opfer aus. Nachdem die Fälschung aufgeflogen war, nahm die Polizei den Mann fest. Der 32-jährige Mann, der als psychisch angeschlagen bezeichnet wurde, erhielt am Mittwoch eine sechsmonatige Bewährungsstrafe und wurde wieder auf freien Fuss gesetzt. Die Frage, ob die Medien fahrlässig handeln, wenn sie im Namen der Sensation und der rascheren Information ungeprüfte Nachrichten verbreiten, sorgt aber weiterhin für heisse Debatten.
http://www.nzz.ch/2005/08/18/vm/articleD2DMZ.html