Geteilter Himmel über Russland
André Ballin, Moskau. Aeroflot hat die Entscheidung über den Kauf von 22 Langstreckenflugzeugen um einen Tag verschoben. Insidern zu Folge ist die Entscheidung zu Gunsten von Boeing allerdings bereits gefallen.
Es geht um einen Auftrag von knapp drei Milliarden USD. Dafür wollte sich Aeroflot entweder 22 Boeing 787 oder die gleiche Anzahl von A350-Jets des europäischen Flugzeugbauers Airbus anschaffen. Nach langem Überlegen soll sich Russlands größte Fluggesellschaft einem Bericht der Tageszeitung „Komersant“ nach nun für Boeing entschieden haben.
Bessere Konditionen von Boeing, offiziell keine Sicherheitsbedenken bei Airbus
Für die (offiziell noch nicht verkündete) Entscheidung wurden zwei Gründe genannt. Erstens konnte Airbus kein konkretes Angebot abgeben. Zweitens sind die modifizierten Modelle A350-900/1000 für 345 -390 Passagiere ausgelegt – zu viel für die russische Fluggesellschaft, die befürchtet die Maschinen nicht voll zu bekommen. Die Boeing 787 ist mit einer Passagierzahl von 265 – 313 Personen deutlich kleiner. Außerdem sollen die Amerikaner Aeroflot einen Rabatt von insgesamt 200 Mio. USD eingeräumt haben.
Sicherheitsbedenken gegen Airbus wurden nicht laut, obwohl im Juni, kurz vor dem Absturz eines A310 der Fluggesellschaft Sibir, die Würfel eigentlich schon zu Gunsten der Europäer gefallen schienen. Immerhin könne Airbus darauf hoffen, als Ausgleich für die jetzige Niederlage beim nächsten Großauftrag von Aeroflot berücksichtigt zu werden, schreibt der „Kommersant“.
Russlands Fluggesellschaften hoffen auf Zolleinsparungen bei Kauf von Westjets
Die größte russische Fluggesellschaft – Aeroflot beförderte 2005 etwa 6,7 Mio. Passagiere (mit Tochterunternehmen sogar 8,1 Mio.) – profitiert von der Ankündigung des russischen Verkehrsministerium, den Einfuhrzoll auf ausländische Flugzeuge zu senken. Die Zölle machten den Kauf eines Airbus oder einer Boeing für russische Fluggesellschaften im Schnitt ca. 40 Prozent teurer als beispielsweise für die Lufthansa.
Durch den Schritt sollen Aeroflot und Co nun in die Lage versetzt werden, statt gebrauchter moderne Passagierjets aus dem Westen zu leasen. Die Ankündigung diente in erster Linie dazu, die Unsicherheit unter den russischen Fluggästen zu lindern. Verschärfungen der Sicherheitsbestimmungen sollen zusätzlich folgen. Zwei Abstürze innerhalb weniger Monate kratzten doch bedenklich am Image der Branche.
Flugkatastrophen als Katalysator
Im Juni kam ein Airbus der Fluggesellschaft Sibir beim Landeanflug auf die sibirische Großstadt Irkutsk von der Rollbahn ab, durchschlug eine Betonmauer und brannte in einem anliegenden Garagenkomplex vollständig aus. Offiziellen Angaben zu Folge starben dabei 124 der 201 Passagiere. Technisches Versagen gilt als Ursache der Katastrophe.
Nur kurze Zeit später, im August fiel eine TU-154 der Airline Pulkovo während des Fluges vom Schwarzmeerkurort Anapa nach St. Petersburg über ukrainischem Territorium vom Himmel. Alle 171 Passagiere kamen ums Leben. Über die Ursache wird noch gerätselt, ein Pilotenfehler kann genau so wenig ausgeschlossen werden wie technisches Versagen.
Auch jetzt ist die Unsicherheit unter den Fluggästen spürbar, vor allem bei den Passagieren der Unglücksgesellschaften. Elena Z., eine Bremer Studentin aus Moskau hatte schon einen Flug von Hannover nach Moskau bei Sibir gebucht, als sie von dem Unglück in Irkutsk erfuhr: „Im ersten Moment wollte ich stornieren“, gibt sie zu. Die hohen Storno-Kosten hielten sie schließlich davon ab. „Doch im Flugzeug habe ich mich schon mulmig geführt. Vor allem, als die Stewardessen ständig wiederholten: Zu Ihrer eigenen Sicherheit machen Sie bitte dies und das“. Noch einmal will die junge Frau nicht mit Sibir fliegen.
Trotz Absturz Sibir im Aufwärtstrend
Andere sind da mutiger. Immerhin ist Sibir, das seit März 2006 unter dem Label „S7“ auftritt, auch nicht irgendeine der 422 russischen Luftfahrunternehmen, sondern die Nummer Zwei. Im vergangenen Jahr fertigte Sibir 4,2 Mio. Fluggäste ab und lag damit deutlich vor dem drittgrößten Unternehmen „Pulkovo“ (2,8 Mio. Gäste). Im Bereich der Inlandsflüge hat Sibir, das sich mehrheitlich im Familienbesitz befindet – 63,2 Prozent der Aktien gehören der Ehefrau des Generaldirektors Wladislaw Filjow – den großen Konkurrenten Aeroflot sogar schon überholt.
Trotz der Flugkatastrophe stehen die Chancen für das Unternehmen aus Nowosibirsk auf lange Sicht also nicht schlecht. Durch eine umsichtige Entwicklungspolitik hat sich die Airline kontinuierlich vom regionalen Anbieter zu einem international tätigen Luftfahrtunternehmen entwickelt. Je etwa ein Dutzend (gebrauchter) Boeings und Airbusse gehören zur Flotte, dazu noch die als zuverlässig geltenden russischen Großraumflugzeuge Iljuschin.und Tupolew. Flugziele in über 20 Ländern werden angesteuert, darunter auch die mehrere deutsche Flughäfen, wie München, Frankfurt oder Düsseldorf.
Nicht zufällig versuchte der Konkurrent Aeroflot ein Blockpaket an Sibir zu erwerben. Diese Pläne Aeroflots wurden jedoch rechtzeitig durch das Wirtschaftsministerium, das einen Interessenkonflikt befürchtete, gestoppt. Und so wird sich wohl Sibir weiter mit Aeroflot um die Eroberung der Lüfte streiten.
Doch auch für andere Fluggesellschaften bleibt Platz am russischen Himmel. Im vergangenen Jahr beförderten Russlands Fluggesellschaften über 35 Millionen Passagiere und 630.000 Tonnen Fracht. Im ersten Halbjahr 2006 wuchs das Passagieraufkommen um acht – neun Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Der Leiter der föderalen Luftfahrtagentur, Alexander Jurtschik, rechnet auch in den nächsten Jahren bis 2010 mit einem jährlichen Wachstum von circa zehn Prozent.
Trotz Unsicherheit keine Alternative zum Fliegen
Der Absturz der beiden Maschinen wird sicher keinen dauerhaften Einfluss auf die Fluggewohnheiten der Russen haben. Kurzfristig könnte es schon zu einem Rückgang kommen. Schließlich hatte auch der Doppelabsturz der beiden Tupolew-Maschinen im August 2004 (hervorgerufen durch zwei tschetschenische Selbstmordattentäterinnen) den russischen Flugfahrtboom kurzzeitig gebremst. Verzeichnete die Branche bis August einen rasanten Anstieg von rund 20 Prozent, waren es am Jahresende gerade einmal zehn Prozent.
Diesmal gibt es freilich keine Anzeichen von Panik. Ob es der russische Fatalismus ist oder einfach die fehlende Alternative, mag dahin gestellt bleiben, aber Fakt ist, dass russische Touristen oft auch dann fliegen, wenn Touristen anderer Länder wegen Sicherheitsbedenken zu Hause bleiben, sei es nach Terroranschlägen in der Türkei oder Ägypten, nach dem Tsunami in Indonesien und Thailand oder eben nach Flugzeugabstürzen.
Durch die wachsenden Einkommen steigt von Jahr zu Jahr die Zahl der russischen Touristen, die Richtung Süden wollen. Da es unmöglich ist, mit Eisenbahn oder eigenem Fahrzeug dorthin zu gelangen, werden die Russen daher auch in Zukunft den Flieger besteigen.
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